Kriegsgefahr – wer will was?

Einen Krieg beginnt ein Staat nur, wenn wesentliche militärische, wirtschaftliche und politische Machtgruppen sich zumindest einbilden können, ihn vorteilhaft nutzen oder gewinnen zu können, und wenn sie sich damit in ihrer Gesellschaft durchsetzen können. Das wird beeinflusst von wirtschaftlichen und politischen Zwängen und internationalen Kräfteverhältnissen.

In die gegenwärtige Verschärfung der Spannungen sind vor allem vier Mächte einbezogen: die USA, China, die EU und Russland. Um deren weltpolitische Lage, Absichten und Handlungsmöglichkeiten einschätzen zu können, spielen ihr jeweiliges militärisches und wirtschaftliches Gewicht, ihre Wirtschaftsbeziehungen und ihre Gesellschaftsform eine Rolle.



1. Militär

Militärisch sind die USA allen anderen weit überlegen. Mit seiner Atom- und Raketenstreitkraft liegt Russland an zweiter Stelle, gefolgt von China. Weit abgeschlagen ist die EU – nach dem Austritt Großbritanniens hat nur noch Frankreich Atomwaffen. Westeuropa nutzt deshalb die geborgte Stärke der NATO. Deutschland steht zudem militärisch unter der Vorherrschaft der USA.

2. Wirtschaft

Wirtschaftlich sehen die Kräfteverhältnisse anders aus:

Die USA waren 2020 mit einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 18 Billionen Euro noch immer die größte Volkswirtschaft, gefolgt von der EU und China mit je etwa 13 Billionen Euro. Mit 4,4 Bill € liegt Japan an vierter Stelle, Russland hat mit einem BIP von etwa 1,3 Bill € nur ein Zehntel der Wirtschaftskraft der EU oder Chinas.

China erhält seit Kurzem weltweit die meisten ausländischen Direktinvestitionen.

Wichtigster Handelspartner der EU in 2020 war China mit einem Volumen von 586 Mrd. Euro. Dabei überwogen die Importe aus China mit 383 Mrd. € deutlich die Exporte nach China (202 Mrd. €). China hat gegenüber der EU eine positive Handelsbilanz.

 Die USA auf dem zweiten Platz kamen auf ein Handelsvolumen von 555 Mrd. € mit der EU. Die Importe aus den USA machten 202 Mrd. € aus, die Exporte in die USA beliefen sich auf 352 Mrd. €. Die USA haben also gegenüber der EU eine negative Handelsbilanz.

 Die Exporte in die USA sind für das europäische Kapital somit noch immer wichtiger als die Exporte nach China. Die deutschen Exporte nach China machten allerdings mit 96 Mrd. € fast die Hälfte der europäischen aus und lagen mit den deutschen Exporten in die USA (103 Mrd. €) fast gleichauf.

 Russland folgt mit einem Handelsvolumen mit der EU von 174 Mrd. € erst auf dem fünften Platz, hinter Großbritannien und der Schweiz, aber vor Japan. Die Importe aus Russland sind hauptsächlich Erdöl und Gas. Russland exportiert mehr in die EU als es von dort importiert.

 Der Gesamtwert des US-Warenhandels mit China betrug 2020  560 Milliarden US-Dollar (etwa 500 Mrd. €), wovon 124 Milliarden US-Dollar (etwa 111 Mrd. €) auf den Export und 435 Milliarden US-Dollar (etwa 388 Mrd. €) auf den Import von Waren aus China entfielen. Die Handelsbilanz der USA mit China ist somit stark negativ.

 Die USA sind hoch verschuldet und setzen ihre Dominanz im internationalen Finanzsystem als Druckmittel ein. China und Russland arbeiten daran, dieser Vormacht eigene Handelssysteme und Entwicklungsbanken entgegenzusetzen.

3. Politik

In keinem der vier beteiligten Mächte ist gegenwärtig eine gesellschaftliche Kraft zu sehen, die stark genug wäre, den herrschenden Klassen bzw. Funktionärseliten eine alternative Politik aufzuzwingen, bzw. selber die politische Führung zu übernehmen. Die Interessen des jeweiligen Landes richten sich deshalb nach den Interessen der herrschenden Kräfte.

Die USA sind ein imperialistischer Staat mit – noch – demokratischer Funktionsoberfläche. Der Zwang zur Kapitalverwertung drängt die Politik, überall auf der Welt Möglichkeiten zur Profitvermehrung bzw. -absicherung zu finden. Die Rüstungsindustrie hat großes Gewicht – der militärisch-industrielle Komplex verschärft die Tendenz zu militärischem Vorgehen. Der US-Dollar dominiert die internationalen Finanzsysteme, und die USA unterhalten weltweit, also auf allen Kontinenten, über 700 Militärstützpunkte. Die amerikanische Flotte beherrscht die Weltmeere, das wird in den Medien unterschlagen. Russland als ihren militärischen Rivalen wollen die USA weiter schwächen.
   Aufgrund ihrer Weltmachtrolle, und weil alle Welt ihre Staatsanleihen kauft, können die USA sich ihre starke Verschuldung leisten. Das schnelle Erstarken der chinesischen Wirtschaftskraft hat die Tendenz, die USA binnen weniger Jahre von ihrer Vorherrschaft zu verdrängen und zu einer absteigenden Weltmacht zu machen, die die Profitinteressen des US-Kapitals dann nicht mehr unangefochten durchsetzen kann. Auch mit dem amerikanischen Selbstverständnis als gottgegebene Vormacht ist das nicht vereinbar.
  Die USA benutzen Demokratie- und Menschenrechtspropaganda zum Schmieden ihrer Kriegsallianzen. Die Lage der schwarzen Bevölkerung, der indigenen Völker und der politischen Gefangenen in den USA kehren die westlichen Meinungsbildner unter den Teppich – die kapitalistischen Verbündeten beten die Mär vom „guten Westen“ und seinen überlegenen Werten nach. Beispielhaftes Meisterstück der Propaganda ist die im Westen verallgemeinerte Ansicht, bedrohliche Überwachungen gingen hauptsächlich von China aus – und das nach den Enthüllungen von Edward Snowden und angesichts der amerikanischen Datenkraken Google, Facebook und Amazon.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde Russland ein kapitalistisches Land, das autoritär regiert und von politisch-wirtschaftlichen Klientelbeziehungen bestimmt wird. Die russische Wirtschaft lebt hauptsächlich von der Förderung von Bodenschätzen, die Konsumwirtschaft ist noch auf einem niedrigen Stand. Es besteht starkes Interesse am Zugriff auf die Bodenschätze der Arktis. Außenpolitik als Mittel zur Förderung des Absatzes russischer Unternehmen beschränkt sich neben dem Gas- und Ölexport hauptsächlich auf den hochentwickelten Rüstungs-, Luft- und Raumfahrtbereich.
  Die militärische Hochrüstung und die Vernachlässigung anderer Wirtschaftsbereiche war durch die amerikanische Bedrohung erzwungen und hat zum Kollaps der Sowjetunion beigetragen. Diesen Druck halten die USA aufrecht – der russische Rüstungsaufwand führt zu Mangel an Mitteln für andere Investitionen und Sozialmaßnahmen und wirkt als Destabilsierungsfaktor. Die Schwäche der russischen Wirtschaft ist ein Ergebnis davon und begründet ein großes Interesse an wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Westeuropa. Ohne seine Militärmacht aber würde Russland auf anderen Feldern, z.B. in den Auseinandersetzungen um die Bodenschätze der Arktis, übergangen werden und ökonomischer Ausbeutung und Fremdbestimmung ausgesetzt sein.
  Der Zusammenbruch des sowjetischen Weltreiches ist ein Trauma, das empfindlich auf machtpolitische Einschränkungen reagiert und als Revanchismus für innenpolitische Manöver genutzt werden kann. Die verselbständigten ehemaligen Sowjetrepubliken, die noch im russischen Einflussbereich verblieben sind, haben ein ähnliches oligarchisches System –  Widerstandsbewegungen dort bedrohen den russischen Cordon Sanitaire und werden deshalb niedergeschlagen, was die Bevölkerung in die Arme der USA treibt. Der Westen lockt mit Freiheit und Demokratie – vor allem wollen die Menschen den westlichen Lebensstandard, aber bitte den der USA oder Deutschlands, nicht den des EU-Landes Rumänien. Sie glauben nicht, dass sie zur Ausbeutung vorgesehen sind.

Die EU ist ein Verbund von Einzelstaaten mit unterschiedlichen, oft widerstreitenden Interessen, die sich aus geographischer Lage, unterschiedlicher Geschichte und unterschiedlichem Entwicklungsstand der Industrialisierung ergeben.  Auch hier verschleiern die demokratischen Funktionsoberflächen den Verwertungszwang des Kapitals, der der jeweiligen Politik im Nacken sitzt und imperialistische Ausdehnungsbestrebungen antreibt. Wirtschaftlich am stärksten und damit tonangebend ist Deutschland. Das wesentliche Spielfeld der Expansion ist die Osterweiterung der EU in die ehemalig sozialistischen Länder, deren Wirtschaft der EU-Konkurrenz nicht standhalten kann.
  Als Juniorpartner der USA nutzt das europäische Kapital die weltweit von den USA offengehaltenen Profitmöglichkeiten und ordnet sich der vom Meister vorgegebenen Politik meist unter, was Widersprüche und Aushandlungsprozesse einschließt. Die eigene imperiale Expansion wird von der NATO abgesichert, hinter der sich die USA verbergen. Die militärischen Mittel der EU sind dazu viel zu bescheiden – die EU ist ein wirtschaftlicher Riese, aber militärisch ein Zwerg.
  Die widersprüchlichen Interessen der EU-Staaten äußern sich in ständigen EU-internen Konflikten und müssen in schwierigen Abstimmungsprozessen besänftigt werden. Jetzt streiten sich zum Beispiel Spanien, Deutschland und Frankreich um Anteile am Kuchen des neugeplanten Kampfjets, aber Spanien wird wohl nur ungern für die „Freiheit“ des Baltikums oder der Ukraine Atomraketen auf sich ziehen. So haben die „Frontstaaten“ aufgrund schlechter Erfahrungen mit russischer Besatzung andere Interessen als der Rest der EU – die dortige Scharfmacherei dient aber eher innenpolitischen Auseinandersetzungen; einen Krieg mit Russland können sie kaum wollen.  Jeder hat andere Interessen – Dänemark z.B. will seinen Anteil an den Arktis-Bodenschätzen sichern, was Griechenland kaum interessieren dürfte. Vor allem Deutschland kommt die Rolle zu, „den Laden zusammenzuhalten“, weil es die EU als Basis seiner Wirtschaftsmacht braucht. Dazu ist es nützlich, Russland in die Rolle des gemeinsamen Feindes zu drängen.
  Außer dem sich vereinheitlichenden Wirtschaftsraum scheint z.Zt. nur das Militär einigender Faktor zu sein, und das ist amerikanisch beherrscht. So wollen die USA den neuen europäischen Kampfjet nur zum Abschießen von Atomwaffen fähig machen, wenn gleichzeitig amerikanische Kampfjets bestellt werden – an denen die amerikanische Rüstungsindustrie verdient, und die dann problemlos auch von amerikanischen Piloten geflogen werden könnten. Nur Frankreich scheint in der Lage zu sein, einen eigenen – imperialistischen – Weg für Europa anzugehen, der sich aber auch auf militaristische Projekte beschränkt und meist kümmerlich bleibt. Deutschland als diensteifriger amerikanischer Vasall nimmt die Installation der gefährlichsten Ziele bei sich freudig hin (Drohnensteuerung, Raketenkommando).

China ist zur Zeit eine kapitalistische Wohlfahrtsdiktatur, in der planwirtschaftliche Eingriffe die Marktwirtschaft lenken und die uneingeschränkte Herrschaft des Profitzwangs verhindern. Den westlichen Unternehmen lässt man weitgehend freie Hand, um aus Innovationen und Wirtschaftsaufbau langfristig Vorteile zu ziehen. Chinas Großkonzerne hängen an der langen Leine der herrschenden Partei und werden durch das Gewicht der Staatsbetriebe in ihrem Einfluss beschnitten. Der Zwang zu Gemeinschaftsausgaben kürzt die Profitrate. Dieser „Sozialismus chinesischer Prägung“ gilt als erforderlicher Zwischenschritt der nachholenden Industrialisierung. Betrachtet man den Ausgangspunkt der Bauernrevolution in dem durch Kolonialismus verelendeten Riesenreich, so ist das erreichte Niveau ein ungeheuerlicher Fortschritt, der die große Zustimmung der Bevölkerung zur Herrschaft der kommunistischen Partei begründet. Die Beteiligungsmöglichkeiten unterhalb der politischen Ebene sind größer als im Westen, aber die neuentstandene Arbeiterklasse ist bisher nur Objekt der Entwicklung – so kann heute nicht gesagt werden, ob das offizielle Ziel, nach Ausnutzung der Kapitalakkumulation in 100 Jahren zum Sozialismus zu gelangen, realistisch ist.
  Die Politik bestimmt somit weitgehend die Wirtschaft – nach Maßgabe der Nützlichkeit für Entwicklungsfortschritt und Wiedererstarken zu nationaler Größe. Dem dient die Außenpolitik mit einem Gemisch von weichen Bedingungen für den Ausbau der internationalen Absatzwege (Seidenstraße) und harter Ausbeutung für die Profite von Auslandsunternehmen. Den wirtschaftlichen Aufbau und den nationalen Stolz will sich China als alte Kulturnation und „Reich der Mitte“ nicht mehr beschneiden lassen. Die imperialistische Machtpolitik der USA, die den Entwicklungsfortschritt bedroht, bedingt den beschleunigten Militärausbau Chinas.

4. Szenarien

A)  Russische Politik und Politik gegenüber Russland

Russland ist die zweitstärkste Atom- und Raketenmacht. Was aber sollte es mit ihrem Einsatz erreichen können? Es kann keinen der Konkurrenten mit Gewinn aus dem Felde schlagen. Und ein Einmarsch in andere Länder unterhalb der Atomschwelle? Dazu wäre mindestens ein einmarschfreundlicher Teil der dortigen Bevölkerung nötig. In Afghanistan gab es den, aber damit hat die damalige Sowjetunion ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht. In Polen, in den baltischen Ländern und in der russlandfeindlichen Ukraine gibt es den nicht. Als Besatzer würde Russland den vollen Widerstand auf sich ziehen. Und wozu? Für zusätzliche Bodenschätze wäre der Preis zu hoch, und okkupierte Industrie würde boykottiert. Russische Revanchisten, denen es nur um die Wiederherstellung der Großmacht geht, werden sich deshalb innenpolitisch kaum durchsetzen können. Um sich Zustimmung zur eigenen Expansion durch Wohlstandsversprechen zu kaufen wie die EU, ist Russland zu arm.
   Die Krim hat sich Russland aufgrund der Einwohnersympathie zurückholen können – das war wegen der Schwarzmeerhäfen eine militärische Notwendigkeit, nachdem die vom Westen befeuerten Proteste in der Ukraine den Regierungssturz und die Westorientierung durchgesetzt hatten. Mit der Rebellion in der russlandfreundlichen Ostukraine wurde den Versprechungen von EU und NATO dann etwas entgegengesetzt. Für die Abspaltungen hatte die russischsprachige Bevölkerung durchaus gute Gründe: Massaker in Odessa, faschistische Milizen, Verbot der russischen Sprache – alles schon vergessen? Das Nationalbewusstsein der Ukraine als junger selbständiger Staat speist sich zu großen Teilen aus dem Gegensatz zu Russland: aus der „Befreiung“ aus der repressiven Einbindung in das sowjetische System, aus den Leidenserfahrungen zu Zeiten von Zwangskollektivierung und Hungersnot, aus dem brutalen Kampf zwischen ukrainischer Untergrundarmee und der Roten Armee von 1945 bis 1954. Dieses Nationalbewusstseins leitet sich auch davon her, dass große Teile der Westukraine vor dem 2. Weltkrieg nicht Teil der Sowjetunion waren. Nazikollaborateure und Faschisten werden als Nationalhelden angesehen.

Für Russland ist deshalb lediglich ein Einmarsch in weitere Teile der von ethnischen Russen bewohnten Ostukraine denkbar, eine Ausweitung der Rebellionszone; das würde aber die sofortige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und anderes nach sich ziehen. Damit sind die Möglichkeiten ausgereizt.  Dass Russland in die Ukraine einmarschieren will, ist deshalb „Nonsense“, wie es der anschließend zum Rücktritt gezwungene deutsche Marineinspekteur Schönbach völlig richtig festgestellt hat. Die russische Militärmacht ist gegenüber Europa nur als Drohpotential nutzbar, sowie anderswo in Stellvertreterkriegen um Einflusszonen (Syrien).
  Hauptinteresse Russlands ist es, einer weiteren Einkreisung durch die NATO entgegenzuwirken, um die Stationierung offensiver Waffensysteme in seiner Nachbarschaft zu verhindern. Die in Rumänien und Polen installierten Raketenabwehrsysteme entwerten bereits die russische Zweitschlagskapazität. Massive Aufrüstung der Nato, Truppenstationierung in den Frontstaaten, Manöver an der russischen Grenze, Aufkündigung des Mittelstreckenraketenabkommens haben die russische Geduld überstrapaziert. Statt auf die Forderung nach Verzicht auf weitere NATO-Erweiterung einzugehen, antwortet die westliche Propaganda mit dem scheinheiligen Argument der freien Wahl des Bündnissystems für jedes Land – aber es ist die NATO, die über Aufnahmeanträge entscheidet.
  Die estnische Grenze ist von St. Petersburg 150 km entfernt, von der lettischen Grenze bis Moskau sind es 620 km, von der ukrainischen Grenze bis nach Moskau wären es nur 400 km. Gegen diese Bedrohung rasselt Russland mit dem Säbel, und deshalb wird es den belorussischen Diktator um jeden Preis an der Macht halten. In der Nato bestimmen die USA, und eine vergleichbare Bedrohung der USA wären russische Militärstützpunkte in Kanada. Der Verzicht auf die NATO-Osterweiterung ist Gorbatschow von allen beteiligten westlichen Mächten versprochen worden – er hat es sich nicht vertraglich garantieren lassen. Sämtliche Angebote Russlands zur Zusammenarbeit sind in den vergangenen Jahrzehnten ausgeschlagen worden.

   Warum suchen die USA nicht den Ausgleich mit einem Land, das keine grundsätzliche Systemalternative mehr darstellt – um die atomare Bedrohung abzumildern? Dass die USA aus Sorge um die europäischen Demokratien so handeln, ist angesichts der mörderischen Geschichte der US-Interventionen äußerst unwahrscheinlich.
   Soll der russische Wirtschaftsraum für bessere Zugangsmöglichkeiten für das US-Kapital aufgeschlossen werden? Ein Regimewechsel in Russland würde dem US-Kapital – und dem europäischen im Schlepptau – zwar neue Wirkungsräume im Osten erschließen, aber dabei stehen EU und USA potentiell in Konkurrenz, wer hier die Vorherrschaft erreicht. Eine Öffnung Russlands ist für das US-Kapital deshalb zwar anstrebenswert, aber auch gefährlich.
   Die europäischen Bourgeoisien sind nicht mehr dadurch bedroht, dass Russland ihnen ein anderes Gesellschaftssystem aufzwingen könnte. Unbedingt verhindern müssen aber die USA eine stärkere Verbindung der Wirtschaftsräume von EU und Russland: Das würde eine noch stärkere Konkurrenz und eine starke militärische Gegenmacht Europas begründen – und zumindest eine Tür öffnen für eine Vereinigung des eurasischen Kontinents, die das Ende der amerikanischen Weltmacht bedeuten würde. Die USA müssen deshalb den Konflikt mit Russland am Köcheln halten, obwohl er keine Grundlage in einer „sozialistischen Bedrohung“ mehr hat. Schon seit hundert Jahren arbeiten die USA daran, eine Verbindung von Deutschland und Russland zu verhindern, und der Scharfmacher Zbigniew Brzeziński hat bereits 1997 Strategien beschrieben, die amerikanische Vorherrschaft in Eurasien durchzusetzen. Diesen Plänen laufen die Wirtschaftsbeziehungen und die starke Stellung Russlands in der Gasversorgung Westeuropas zuwider. Nordstream 2 würde zudem die Integration von EU und Russland auf dem Energiesektor weiter verstärken.
  Soldaten der NATO bilden seit 2015 ukrainisches Militär für den Kampf gegen die Ostukraine aus, dafür sind 2,5 Milliarden US-Dollar geflossen. Würde die Ukraine Donezk und Luhansk angreifen und Russland zurückschlagen, wäre die Saat der USA aufgegangen: Vertiefung des Grabens zwischen EU und Russland, Schwächung oder Unterbindung von Wirtschaftsbeziehungen durch Sanktionen, Ende von Nordstream 2, Absatzmarkt für amerikanisches Fracking-Gas.
  Zur Konfliktverschärfung nutzen die USA die Scharfmacherei der Frontstaaten (Baltikum, Polen, Ukraine), die von EU und Deutschland kaum ausgebremst werden.
  Alle Pläne von „gemeinsamem europäischen Haus“ und „eurasischer Wirtschaftsunion“ waren chancenlos, weil das europäische Kapital sich in seinem Hunger auf die neuerschlossenen ehemaligen Sowjetrepubliken der US-Politik und damit der NATO untergeordnet hat und weiter unterordnet.

Ein zusätzliches Hindernis vor einer Vereinigung des eurasischen Kontinents ist selbstredend die staatliche Steuerung der kapitalistischen Entwicklungsphase Chinas, die das europäische Kapital und seine Dienstsprecher aus Furcht vor Vergesellschaftung als Systemkonkurrenz und Bedrohung empfinden.

Das europäische Kapital will weiter von der amerikanischen Weltherrschaft profitieren, hat aber auch eigene Interessen, die dazu in Widerspruch geraten (Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, Iran und China). Den amerikanischen Iran-Sanktionen hat sich die EU schon gefügt. Militärisch sitzt Westeuropa durch die Unterordnung unter die amerikanische NATO-Strategie, die sich zum großen Teil mit den Machtinteressen der EU deckt, in einer – noch bequemen – Falle, kaschiert durch „Mitwirkung“ und europäische Funktionsträger.
  Die Öffnung Ost- und Südosteuropas nach dem Zerfall der Sowjetunion ging einher mit einer wirtschaftlichen Eroberung durch das EU-Kapital; besonders das deutsche hat davon profitiert. Die Ukraine ist ein industriell entwickeltes Land mit einer bedeutenden Rüstungsindustrie und von großer geostrategischer Bedeutung. Der Ukraine-Konflikt wurde von der EU mit dem Assoziierungsabkommen 2014 losgetreten – in der Folge kam es zu Regierungssturz, Wechsel in das westliche Lager, Krimsezession und Rebellion in der Ostukraine. Nach der Ukraine stehen noch Belorussland und Georgien auf dem Speiseplan, und womöglich Kasachstan. Die militärische Absicherung besorgt die NATO.
  Die EU sieht die Chance, die militärische „Bedrohung“ durch Russland zur Stärkung ihrer Einheit zu nutzen – und zur Bedienung der Interessen der Rüstungsindustrie. Zur weiteren Ausdehnung ihrer Interessenssphäre muss die EU für die demokratischen Bewegungen in den Konfliktländern glaubhaft bleiben. Das nutzt die Ukraine, die den offiziellen Verlautbarungen nach ihren russischsprachigen Landesteil und die Krim zurückgewinnen will. So hat die Ukraine als Ziel die Herstellung der nationalen Einheit in den Grenzen von 2014 formuliert – das würde zunächst den Einmarsch in die autonomen „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk bedeuten. Vor allem die rechtsradikalen ukrainischen Paramilitärs, die die Regierung nicht unter Kontrolle hat, rüsten zum Krieg – aber die Schuld muss Russland zugewiesen werden: Die Legende, dass eingesickerte verkleidete russische Spezialkräfte die abtrünnigen Republiken in der Ostukraine angreifen und so den Krieg provozieren, ist schon gestrickt. Während die USA den Konflikt öffentlichkeitswirksam verschärfen (Diplomatenabzug, Überzeichnung des russischen Aufmarsches, Diskussion im Sicherheitsrat), mahnt Kiew inzwischen zur Ruhe. Offenbar bestehen in der Ukraine Differenzen zwischen den angriffslustigen Milizen und den Kräften, die lediglich höhere Finanzhilfen und Rüstungslieferungen herausschlagen wollen. So scheint es z.Zt. fraglich, ob es den USA gelingt, den Krieg vom Zaun zu brechen.
Westeuropa trabt mit, obwohl es an einer Vertiefung des Grabens zwischen sich und Russland kein langfristiges Interesse haben kann. Das kurzfristige wirtschaftliche Interesse der EU braucht aber die Einhegung Russlands. Und so handelt die EU aus Gewinnstreben, unter dem Druck der Scharfmacher, der Rüstungsindustrie und der USA gegen die friedliche Zukunft des Kontinents, die aber wohl die Überwindung des Kapitalismus zur Voraussetzung hätte.

Die USA haben so die Möglichkeit, die EU zur Unterstützung ihrer internationalen politischen Handlungen zu nötigen, auch wenn diese militärisch-praktisch werden. Und bei Notwendigkeit, Krisenverschärfungen etc. können sie ihren russischen Konkurrenten und ihre europäischen „Partner“ aufeinanderhetzen – wenn sich dafür kein Anlass bietet, können Geheimdienste und Meinungsbildner ihn mit Leichtigkeit konstruieren. So lässt sich notfalls Konkurrenz ausschalten. Sinnvoller aber scheint – noch – die Übernahme der Konflikte mit Russland durch die Westeuropäer selbst, zwecks Entlastung der USA für andere „Aufgaben“. Ein begrenzter Krieg, ausgelöst durch die Absicht der Ukraine, ihre abtrünnigen Gebiete zurückzugewinnen, würde die Spaltung zwischen Westeuropa und Russland derart vertiefen, dass die EU die Bedrohung Russlands dann stärker selbst übernehmen muss.

B) Politik Chinas und gegenüber China

Wichtiger für die USA ist die Unterstützung Westeuropas beim Eingrenzen Chinas. Das betrifft vor allem das Zurückfahren der wirtschaftlichen Beziehungen, aber auch das militärgestützte Unterbinden des Ausbaus der Transportwege für chinesische Waren.

 Mittelfristig gibt es drei Wege für die USA, gegen das wirtschaftliche und militärische Erstarken Chinas vorzugehen, um ihre Vorherrschaft zu sichern:
   Das Abkoppeln Chinas von der Weltwirtschaft und damit eine Verhinderung des weiteren Erstarkens; die militärische Einkreisung durch eine internationale Übermacht unter Mithilfe ihrer europäischen und pazifischen Vasallen; die kriegerische Schwächung oder Vernichtung Chinas.

 Das Kappen der Wirtschaftsbeziehungen und Lieferketten trifft auf gegenläufige Interessen von Teilen der amerikanischen, europäischen, australischen und japanischen Wirtschaft, am riesigen Absatzmarkt und billigen Produktionsstandort in China festzuhalten, und ist ein langer Prozess. Der Versuch, China durch Strafzölle zu schwächen, ist bisher fehlgeschlagen. Empfindlicher wirken der Stopp der Lieferung von Halbleitern und die Sanktionen gegen chinesische High-Tech-Konzerne. China wehrt sich dagegen, z.B. mit Gegenzöllen, pazifischem Freihandel und eigenem Finanzsystem. Auch die EU sieht China als „Systemkonkurrenz“ und Gegner, der in der EU selbst schon zum wirtschaftlichen Konkurrenten wird. Die EU versucht, der Seidenstraße mit einem Gegen-Investitionsprogramm zu begegnen. EU-Länder, die bereits wirtschaftliche Vorteile durch chinesische Investitionen haben, bröckeln aber aus der Front.

Dem militärischen Einkreisen stemmt sich die chinesische Rüstung entgegen (U-Boote, Flugzeugträger), und die internationale Beteiligung an der Mattsetzung Chinas macht nur langsame Fortschritte und wirft neue Spaltungslinien auf (U-Boot-Vertrag mit GB und Australien gegen französische Interessen). Das deutsche Fregattchen pflügt allerdings schon stolz durch das Südchinesische Meer in Unterstützung der ständigen Provokationen der US-Flotte. Deren Fahrten durch die Taiwan-Straße würden etwa chinesische Kriegsschiffe zwischen Kuba und Florida entsprechen. Nicht zur „Sicherung des freien Welthandels“ wie behauptet, sondern zur Vorbereitung der Unterbindung der chinesischen Handelswege dient die Einkreisung Chinas zur See, an der sich die deutsche Marine so artig beteiligt – und zum Warmhalten des Konfliktzünders Taiwan. China versucht, die militärische Nutzung der Inselketten vor seiner Küste durch gegnerische Staaten zu verhindern und besetzt einige selbst – das wird zur chinesischen Expansion verdreht.
Zur Einstimmung der Bevölkerung auf den Krieg zieht die westliche Propaganda alle Register; so werden die chinesischen Versuche, islamistischen Anschlägen und Pogromen mit zweifelhaften Umerziehungslagern zu begegnen, zum „Völkermord“ aufgebauscht. Die darin implizit enthaltene Verharmlosung des Holocaust wird nirgends strafrechtlich verfolgt.

Das Bündnis von USA, Indien, Japan und Australien übt bereits den Krieg gegen China. Im nächsten Jahr sollen sich zwei deutsche Kriegsschiffe beteiligen.
   Die USA werden alle Mittel nutzen zur Verhinderung des weiteren Aufstiegs von China. Wenn das alles nicht zum Ziel führt, könnten die jetzt schon starken Kräfte im Militär, die einen Präventivkrieg verlangen, die Oberhand gewinnen. Das hätte auch den Vorteil, dass der Hauptgläubiger der USA vernichtet würde. Die Hardliner im US-Militär gehen von einem Krieg mit China in fünf bis sechs Jahren aus. Ob das ohne Schaden für die USA abgehen könnte, steht auf einem anderen Blatt. Der Zweite Weltkrieg hat 80 Millionen Tote gekostet; dass der Dritte wohl Milliarden Menschen töten wird, nimmt man notfalls in Kauf. Natürlich werden Politiker versuchen, den Krieg zu verhindern – bis sie nicht mehr anders können. Die atomare Verseuchung bei einem Atomkrieg würde dann allerdings nur wenige Gebiete aussparen – der Kampf der Mächte ginge dann darum, selbst nicht betroffen zu sein bzw. ihre Vorherrschaft in den nicht betroffenen Gebieten zu sichern.
  China hat eine ungeheure Innovationskraft seiner Jugend freigesetzt, die sich natürlich auch auf den militärischen Bereich auswirkt – und so ist China immer für eine Überraschung gut, wie kürzlich mit dem Test der Hyperschallwaffen, die die amerikanischen Abwehrsysteme entwerten. So gibt es auch die Chance, dass ein neues Gleichgewicht den Frieden sichert.

China ist nicht wie die imperialistischen Länder durch den Profitzwang seiner Konzerne zu Eroberungen und Ausdehnung getrieben – es führt sie an der Leine und hegt sie durch den staatlichen Industriesektor und die Parteiherrschaft ein. Für weiteren Aufstieg braucht China friedliche Entwicklung. Dafür nutzt es allerdings auch sein Übergewicht über Anrainerstaaten. Der ausgeprägte chinesische Nationalismus treibt zum Widerstand gegen die amerikanischen Provokationen und zum Konflikt. Die chinesische Außenpolitik ist dem Ziel der nationalen Entwicklung untergeordnet: gegen die Revolutionen in Mianmar und Kasachstan unterstützt China die dort herrschenden Ausbeutercliquen, denn beide Länder sind wichtige Glieder der neuen Seidenstraße, und China hat in Xinjiang eine ethnische Minderheit von 1,5 Millionen Kasachen. Der Aufstand darf nicht überschwappen.

Die US-Politik treibt momentan Russland, China und den Iran in eine Zusammenarbeit. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Partner sich unter verschärfter Bedrohung auch gegenseitig opfern können – für Russland kann es von Vorteil sein, wenn die US-Aggression sich auf China konzentrierte, und für China wäre es sicherlich ein kleineres Übel, wenn ein Krieg zwischen Russland, Europa und den USA die Bedrohung von China abwenden würde. In der Politik gibt es keine Freunde, nur Interessen.

Den Weg zu einer friedlichen Entwicklung kann man von keiner der beteiligten Mächte erwarten. Ihre militärstrategischen Institutionen und politischen Thinktanks spielen ständig alle Möglichkeiten durch, sind aber selbst durch die Rahmenbedingungen Getriebene. Nur der Widerstand gegen die Kriegsvorbereitungen in den jeweiligen Ländern kann die Katastrophen abwenden. Er scheint zur Zeit schwach.

Klaus Dallmer und
Hamburger Mitglieder der Gruppe Arbeiterpolitik

07.02.2022