22.03.2020
Angesichts der sich rasant ausbreitenden Pandemie und des Beginns einer wirtschaftlichen Depression fordern wir:
Die Arbeiten in allen nicht für die Infrastruktur notwendigen Betrieben sofort zu untersagen und einzustellen, wie von der italienischen Regierung unter dem Zwang der Ereignisse und dem Druck von unten gestern, am 21. März, verfügt.
Die Mobilisierung aller materiellen und finanziellen Mittel der Gesellschaft zur Eindämmung der Pandemie und zur Abfederung der sozialen Folgen der Krise. Statt durch Steuerleichterungen, wie seit Jahrzehnten üblich, sollten die Vermögenden und Konzerne über die Einführung einer Pandemie- und Krisensteuer zur Bewältigung der Krise herangezogen werden.
Was die Bundesregierung und die Bundesländer in der Bekämpfung der Pandemie zu verhindern suchten, ist eingetreten; nun habe das aus China stammende Virus auch die Börse und die Wirtschaft infiziert.
Am 12. März schrieb german-foreign-policy: „Die Bundesregierung leitet in der Coronakrise Hilfsmaßnahmen für die deutsche Wirtschaft ein und verweigert von der WHO dringend empfohlene Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung“, Berlin unternehme „alles“, damit das Covid-19-Virus „die Wirtschaft in Deutschland nicht flächendeckend trifft“, ließ sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier schon zu Monatsbeginn zitieren. „Die Maßnahmen stärken die Stellung deutscher Unternehmen in der globalen Rivalität.“ Ende Februar hatte die WHO konstatiert, „große Teile der globalen Gemeinschaft“ seien noch nicht bereit, sowohl in ihrer Einstellung als auch materiell, die Maßnahmen durchzuführen, die zur Eindämmung von Covid-19 in China angewandt wurden.“
Die chinesische Regierung hatte in der am stärksten betroffenen Provinz Wuhan nicht nur Schulen, Kindergärten und Universitäten, sondern auch die Produktionsbetriebe stillgelegt. Damit ist es ihr gelungen, betroffene Regionen abzuschotten und die Pandemie einzudämmen.
Doch zu solch rigorosen Maßnahmen sind die Bundesregierung und die Regierungen in anderen EU-Staaten bis heute nicht bereit. Schon die Schließung von Schulen und Kindergärten erfolgte in Deutschland viel zu spät, mit teils abenteuerlichen Ausflüchten. Die arbeitenden Eltern könnten ihre Zöglinge ja nicht bei den Großeltern unterbringen, die zu den Risikogruppen gehören. Sie unter Fortzahlung des Lohnes freizustellen, auf diese Idee kam in Deutschland kein politisch Verantwortlicher. Unter dem Zwang des rapiden Anstiegs der Infektionen und der Empfehlungen der Fachleute haben die Bundesländer, eines nach dem anderen, eine Kehrtwende vollzogen.
Während nun für große Teile der Bevölkerung das soziale und öffentliche Leben immer stärker eingeschränkt, oder wie z.B. in Italien, Spanien etc. durch Ausgangssperren fast gänzlich unterbunden wird, sollen Unternehmen und Betriebe weiterhin davon ausgenommen werden. Von den Ausgangssperren nicht betroffen sind Menschen beim Einkauf von Lebensmitteln, was notwendig und sinnvoll ist – und auf dem Weg zur Arbeit, was völlig unnötig und widersinnig ist, es sei denn sie arbeiten in Bereichen und Branchen, die das Funktionieren der öffentlichen Infrastruktur sicher stellen. Während die Bevölkerung aufgefordert wird, ihre sozialen Kontakte einzustellen, werden die arbeitenden Menschen gezwungen, sich dem Risiko einer Infektion auszusetzen, wollen sie nicht durch eine Verletzung des Arbeitsvertrages ihren Job aufs Spiel setzen. Die Mehrzahl der Beschäftigten arbeitet ja nicht in Bereichen und Branchen zur Sicherung der öffentlichen Infrastruktur; die Mehrheit schuftet für die deutsche Exportindustrie, in der Automobil- und Zulieferindustrie, im Maschinenbau, in Rüstungsbetrieben. Sie stellt Autos oder andere Güter her, von denen niemand sagen kann, ob sie angesichts des Konjunktureinbruchs überhaupt noch abgesetzt werden können.
Alle Regierungen in den EU-Staaten sind trotzdem bemüht, die Folgen der Pandemie für den Antrieb der Gesellschaft, für die kapitalistische Gewinnerzeugung so gering wie möglich zu halten. Deshalb ist der Arbeitsweg von den Ausgangssperren ausgenommen. Von den Ein- und Ausreiseverboten nicht betroffen ist der Warenverkehr, egal ob es sich um lebenswichtige Lieferungen (Medikamente, Lebensmittel usw.) oder um Luxus- und andere Konsumgüter handelt, auf die mensch eine Zeitlang verzichten kann. Ausgenommen sind auch die Pendler. So sollen nach dem Willen der Vorsitzenden der EU-Kommission, von der Leyen, die Auswirkungen für die Lieferketten und für die europäischen Produktionsstandorte möglichst minimiert werden.
Unsere Forderung kann nur lauten, die Arbeiten in allen nicht für die Infrastruktur notwendigen Betrieben sofort zu untersagen und einzustellen. Eine Forderung, die in zahlreichen Streiks, zunächst in Italien und nun immer häufiger in anderen EU-Staaten aufgestellt wird. Auch die Einstellung der Produktion in der Automobilindustrie ist, neben der Absatzkrise und den logistischen Problemen bei der Zulieferung, auf die massive Verunsicherung und Unruhe in den Belegschaften zurückzuführen.
Am Samstagabend (21. März) ordnete die italienische Regierung an, die Arbeit in allen nicht lebenswichtigen Unternehmen und Fabriken einzustellen. Der öffentliche Druck durch den rapiden Anstieg der Infektionen und Toten, die Arbeitsniederlegungen zahlreicher Belegschaften mit entsprechenden Forderungen der Gewerkschaften haben diese Entscheidung erzwungen. In Spanien deutet sich eine ähnliche Entscheidung an. Wie lange sich die Haltung von der Leyens oder der Bundesregierung noch durchhalten lässt, ist auch von den Aktivitäten der Belegschaften und der Haltung der Gewerkschaften abhängig.
Ein weiteres Beispiel soll diesen Irrsinn verdeutlichen. Während beispielsweise Bars, Restaurants und Einzelhändler (mit zahlreichen Beschäftigten) in den Ruin getrieben werden oder um ihre Existenz bangen müssen, kann Amazon seine Waren weiter vertreiben und damit seine Marktstellung auf Kosten des lokalen Einzelhandels weiter ausbauen. Ein Konzern, der in Europa kaum oder keine Steuern zahlt und wenig oder überhaupt nicht zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beiträgt.
Die sozialen Folgen von Wirtschaftskrise und Pandemie
Niemand kann voraussagen, wie tief und wie lang die bevorstehende Rezession ausfallen wird, auch nicht welchen Anteil die direkten Folgen der Pandemie (Produktionsausfälle, Rückgang der BIP) daran einnehmen werden. Sie war der Auslöser, der auf eine schon stotternde Konjunktur in der Weltwirtschaft traf, in der nationale Egoismen und materielle Eigeninteressen immer stärker das Regierungshandeln im internationalen Wettbewerb bestimmten. Die Pandemie traf auf Börsen- und Finanzmärkte, die sich nach dem Ende der Finanzkrise 2009 erneut immer stärker aufgebläht hatten und deren Spekulationsblasen nun platzen. Die Pandemie offenbart den Zustand der Gesellschaft und ihrer staatlichen Institutionen, deren Handeln in der Vergangenheit von der Schaffung möglichst günstiger Voraussetzung für die Gewinnmaximierung bestimmt wurde, woran sich auch in Zukunft nichts ändern wird, sollte nicht der Druck von unten zu Korrekturen und Änderungen zwingen.
Bestes Beispiel für die sozialen Verheerungen (die schon lange existieren) ist das nun im öffentlichen Blickfeld stehende Gesundheitswesen. So schreibt Kalle Kunkel im „Freitag“ vom 13. März: „In dieser Hinsicht wirkt die Corona-Pandemie eher wie ein Brennglas, in dem schon länger bekannte Probleme besonders scharf sichtbar werden: es fehlt an Personal in den deutschen Krankenhäuser. […] Von (neo)liberaler Seite wurden in den vergangenen Jahren vor allem die angeblichen „Überkapazitäten“ an Bettenplätzen und Krankenhausstandorten in Deutschland in den Mittelpunkt der Debatte gestellt. Sie würden zu einer Fehlsteuerung der Ressourcen führen. Weniger Betten konzentriert an weniger Krankenhausstandorten – so die über Jahre eingeübte Kernbotschaft – würden ermöglichen, mit dem vorhandenen Personal die Pflegebedingungen für PatientInnen und Beschäftigte zu verbessern und sogar noch Geld zu sparen. Die im europäischen Vergleich hohe Bettendichte pro EinwohnerIn gilt in dieser Argumentation als Beleg für Rationalisierungspotential. […] Damit sind wir beim Kern der deutschen Krankenhausmisere: der Finanzierung nach den sog. Fallpauschalen (DRG). Denn deutsche Krankenhäuser bekommen nur ein Minimum ihres Budgets für die Vorhaltung von Kapazitäten. Die Krankenhäuser werden pro Patientenfall bezahlt, den sie behandeln. Sie müssen ihre Kapazitäten immer so auslasten, dass sie über die Erlöse durch die einzelnen Patientenfälle genug Geld einnehmen, um den Betrieb ihrer gesamten Infrastruktur (inklusive Personal) finanzieren zu können. In einem solchen System handelt betriebswirtschaftlich unverantwortlich, wer seine Kapazitäten nicht so weit wie möglich auslastet. Für den Krisenfall vorgehaltene (leere) Betten sind aus der individuellen Krankenhausperspektive Erlösausfälle. Das Problem beginnt also nicht erst – wie man es aktuell in verschiedenen Stellungnahmen hört – mit der Gewinnorientierung. Es beginnt bereits mit der „Erlösorientierung“ – also dem Zwang den gesamten Betrieb durch das Erbringen von „Leistungen“ finanzieren zu müssen – unabhängig davon, ob diese individuell oder gesellschaftlich gerade sinnvoll sind. Es wäre, wie wenn die Feuerwehr nur für jeden gelöschten Brand bezahlt werden würde. […] Wir lernen also jetzt schon aus der Krise, dass die Propagierung angeblicher Überkapazitäten und der Notwendigkeit von flächendeckenden Krankenhausschließungen, wie sie die Bertelsmann-Stiftung und andere betreiben, unverantwortlich ist. Es ist aber darüber hinaus überfällig, Alternativen zum bestehenden System der Fallpauschalen-Finanzierung zu entwickeln. Krankenhausversorgung darf nicht den Marktanreizen überlassen, sondern muss demokratisch geplant werden.“ ( Kalle Kunkel: Der Kern der deutschen Krankenhausmisere)
Das Gesundheitswesen ist nur ein Beispiel für die existierende Misere in der öffentlichen Daseinsvorsorge und in zusammengesparten Verwaltungen und Behörden. Die sozialen Verwüstungen, die die Rezession noch nach sich ziehen wird, trifft auf einen immer stärker deregulierten Arbeitsmarkt, in dem der Niedriglohnsektor beständig ausgeweitet wurde – befeuert durch Outsourcing von Firmen, öffentlichen Betrieben und Verwaltungen – flankiert und initiiert durch Regierungshandeln (siehe Agenda 2010).
Während die Belegschaften der großen Konzerne noch relativ gut abgesichert sind, weil Gewerkschaften und Betriebsräte eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes durch betriebliche Zuschüsse durchsetzen konnten (von 60 bzw. 67 Prozent auf 80 oder 90 Prozent in der Metallindustrie), sieht es für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor und für die Belegschaften in Klein- und Kleinstbetrieben verheerend aus. Wer mit seinem Lohn gerade mal über die Runden kam, kann weder vom Arbeitslosen- noch vom Kurzarbeitergeld leben, muss Lohnzusatzleistungen bei den Jobcentern beantragen. Hier gilt es als erstes Vorstellungen und Forderungen zu entwickeln, die sie vor den absehbaren Folgen schützt.
Wichtigste Forderung wäre die Mobilisierung aller materiellen und finanziellen Mittel der Gesellschaft zur Eindämmung der Pandemie und zur Abfederung der sozialen Folgen der Krise. Statt durch Steuerleichterungen, wie seit Jahrzehnten üblich, sollten die Vermögenden und Konzerne über die Einführung einer Pandemie- und Krisensteuer zur Bewältigung der Krise herangezogen werden.
Erste Forderungen:
– Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe.
– Aufstockung des staatlichen Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent für Beschäftigte, deren Arbeitgeber (nach Prüfung der Bilanz) nicht in der Lage sind Zuschüsse zu finanzieren1, eine Forderung die mittlerweise von den beiden Vorsitzenden der IG Metall und der ver.di erhoben wurden;
– die spürbare Anhebung von ALG-Leistungen, wie von den Sozialverbänden gefordert;
– Erlass bzw. Minderung der Mieten für in Bedrängnis geratene Mieter*innen und Kleingewerbetreibende;
– die bundesweite Einführung des Mietendeckels, wie vom Abgeordnetenhaus für das Land Berlin beschlossen;
– sofortiger Stopp aller Zwangsräumungen, keine Sperrung von Energielieferungen und Wiederanschluss in bereits vollzogenen Fällen.
1) Petition: Miete zahlen trotz Corona! – 90 % Kurzarbeitergeld jetzt! Wer die Petition unterschreiben will, findet sie hier:
Wir, die Initiative „100 Jahre unvollendet Revolution“, fühlen uns bestätigt in dem Anliegen, die bis heute nicht realisierten Forderungen der Novemberrevolution von 1918 wieder in das Bewusstsein gerade der abhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften zu heben: die Sozialisierung der Banken und Schlüsselindustrien, die Beseitigung der unternehmerischen Alleinherrschaft in den Betrieben. Angesichts der heraufziehenden Krise sind diese Forderungen so aktuell wie damals.