Gespräch mit dem Historiker Sergio Grez von der Universität Chile über die aktuelle politische Entwicklung in Chile.

Interview vom 03.12.2021 mit dem Online Journal El Irreverente

„Der Sieg von Boric wird nur eine vorübergehende Erleichterung sein, denn die Gefahr der extremen Rechten wird bestehen bleiben.“

Der Wissenschaftler von der Universität Chile vertritt die Ansicht, dass es trotz der Wahlergebnisse von José Antonio Kast und der neuen Zusammensetzung des Kongresses keine reaktionäre „Flut“ im Land gibt. Darüber hinaus argumentiert er, dass Boric, um zu gewinnen, „sich sehr anstrengen muss, um die Mehrheit der Bevölkerung zu erreichen, die mehr als 52 Prozent der Wählerschaft, die [in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen] nicht abgestimmt hat“.

Sergio Grez, der an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris in Geschichte promoviert hat und an der Universität von Chile lehrt, analysiert die Ergebnisse der Wahlen und warnt davor, dass die strukturellen Probleme des Landes nicht mit halbherzigen Maßnahmen gelöst werden können, wie sie der Kandidat Gabriel Boric vorgeschlagen hat, und noch weniger mit dem extrem nationalistischen, xenophoben, antikommunistischen und frauenfeindlichen Programm von José Antonio Kast.

Herr Grez, wie beurteilen Sie den Sieg von José Antonio Kast in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen und welche Faktoren erklären diese „Überraschung“?

Sergio Grez: Abgesehen von der emotionalen Wirkung, dass der Kandidat der extremen Rechten bei diesen Wahlen den ersten Platz erreicht hat, muss gesagt werden, dass die Stimmen der „traditionellen“ Rechten insgesamt im Vergleich zu den Wahlergebnissen der vergangenen Jahrzehnte nicht wesentlich zugenommen haben. Kast schlug Boric mit etwas mehr als zwei Prozent der Stimmen, was im Hinblick auf die Stichwahl kein uneinholbarer Prozentsatz ist. Außerdem haben Kast mit 27,91 Prozent und [der ebenfalls rechte Präsidentschaftskandidat Sebastian] Sichel mit 12,79 Prozent zusammen nur 40,7 Prozent der Stimmen bekommen. Selbst wenn die Hälfte der für [den weiteren Bewerber Franco] Parisi abgegebenen Stimmen (6,39 Prozent) im zweiten Wahlgang an Kast fallen würde, käme der rechtsextreme Kandidat nur auf etwa 47,1 Prozent. Es gibt also keine reaktionäre „Flut“, auch wenn es offensichtlich ist, dass die konservativsten Kräfte in der nationalen Politik wieder erstarken und wahrscheinlich ein neuer rechter Flügel entsteht. Dies wird in den Ergebnissen der Parlamentswahlen deutlich, bei denen der rechte Flügel sein bestes Ergebnis der vergangenen Jahre erzielte und einige verlorene Positionen zurückeroberte, ohne jedoch einen signifikanten Stimmenzuwachs zu erzielen. So erklärt sich der Aufstieg der Christlich-Sozialen Front von Kast in der Abgeordnetenkammer, die 15 Sitze errang, dadurch, dass die traditionellen Rechtsparteien Renovación Nacional (RN), Unión Demócrata Independiente (UDI) und Evopoli 11, 7 bzw. 2 Sitze verloren und von 72 auf 53 Abgeordnete schrumpften. Insgesamt verfügen die rechten Kräfte jetzt über 68 Abgeordnete (44 Prozent). Es handelt sich auch hier nicht um eine reaktionäre „Flut“, sondern um eine einfache Stimmenverschiebung zwischen den konservativen Parteien, wobei allerdings zu bedenken ist, dass dies eine Radikalisierung eines erheblichen Anteils der rechten Wählerschaft bedeutet.

Und wie bewerten Sie das Wahlergebnis der linken Sektoren?

S. G.: Im Gegensatz hierzu stellen die Wahlanalysten einen bedeutenden Erfolg der Linken im Unterhaus fest, die in der nächsten Legislaturperiode (die im März 2022 beginnt) von 33 auf 44 Abgeordnete anwachsen wird, darunter 37 von Apruebo Dignidad (12 von der Kommunistischen Partei und 23 von der Frente Amplio). Der große Verlierer dieser Wahl war die ehemalige Concertación, die in „Nuevo Pacto Social“ („Neuer Sozialpakt“) umbenannt wurde und nur 37 Abgeordnete erhielt: 13 von der Sozialistischen Partei (PS), 8 von der Christdemokratischen Partei (DC), 7 von der Partei für Demokratie (PPD) und 4 von der Radikalen Partei (PR), wobei sie alle erhebliche Einbußen gegenüber der letzten Wahl hinnehmen mussten. Die größte Überraschung und Veränderung im Unterhaus sind die sechs Abgeordneten der Partido de la Gente („Partei der Leute“) (von Franco Parisi), die in der nächsten Legislaturperiode als „Scharnierpartei“ fungieren und je nach den Umständen das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung lenken kann. Im Senat liegen die rechten Parteien (die ihr bestes Ergebnis seit Jahrzehnten erzielten) und die derzeitigen Oppositionsparteien mit jeweils 25 Abgeordneten gleichauf.

In der öffentlichen Meinung war es jedoch die Rechte, die in der ersten Runde gewann und bei den Wahlen Boden gut machte.

S. G.: In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gab es, wie auch bei den Parlamentswahlen, keinen spektakulären Aufstieg der am meisten konservativen Kräfte, aber eine gewisse Radikalisierung innerhalb dieser Kräfte in Richtung der extremen Rechten. Obwohl Apruebo Dignidad die Wahlen vom 19. Dezember nun als eine entscheidende Konfrontation zwischen Faschismus (Kast) und Antifaschismus (Boric) darstellt, bin ich der Meinung, dass es im Interesse einer größeren konzeptionellen Klarheit notwendig ist, eine gewisse kritische Distanz zu dieser Behauptung einzunehmen. Sicherlich würde ein möglicher Triumph des Bannerträgers der Rechten und der extremen Rechten eine Gefahr für die Mehrheit der Gesellschaft und einen Rückschlag für die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rechte und Errungenschaften der Arbeiterklasse und der mittleren und unteren Schichten darstellen, aber dies würde nicht die Einsetzung einer „faschistischen“ Regierung bedeuten. Erstens, weil Kast und seine Partei keine Faschisten oder Neofaschisten sind, sondern Postfaschisten, da sie nicht ein korporatistisches Modell oder ein Wirtschaftssystem unter starker staatlicher Kontrolle vorschlagen, wie es im klassischen Faschismus der Fall war, sondern die orthodoxe Anwendung des neoliberalen Modells. Eine politische Bewegung ist nicht notwendigerweise faschistisch, weil ihre ideologischen Merkmale extremer Nationalismus, Xenophobie, Antikommunismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Autoritarismus und Verachtung der liberalen Demokratie sind. Während diese Merkmale mit denen anderer rechtsextremer Bewegungen übereinstimmen, ist im Falle der Faschisten und Neofaschisten das korporatistische Staatskonzept ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal. Andererseits wäre eine mögliche Kast-Regierung auf die Unterstützung oder zumindest die wohlwollende Neutralität anderer Fraktionen der Rechten, des Großkapitals, der Streitkräfte und des Staatsapparats im Allgemeinen angewiesen, was derzeit nicht gesichert zu sein scheint. Auch wenn die herrschenden Klassen während des Volksaufstands (rebelión popular) große Angst hatten und regelmäßig, begleitet von Drohgebärden, ein gewisses Unbehagen äußern, brauchen sie im Moment keine „faschistische Diktatur“, um ihre Vorherrschaft und Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ihre Drohungen und Gesten sind Teil einer taktischen Strategie, die darauf abzielt, die Positionen von Apruebo Dignidad zu zermürben, um die von ihrem Kandidaten vorgeschlagenen Reformen zu mäßigen und weiter einzuschränken.

Worüber sollten sich die unteren Schichten (sectores populares) also Sorgen machen?

S. G.: Wenn man auch die Entwicklung der Situation in Chile in den vergangenen Jahren betrachtet, sollten wir ebenso oder mehr als über das Aufkommen einer „faschistischen Regierung“ besorgt sein über den faschistischen Vormarsch in der gegenwärtigen Demokratie während der Regierungen der klassischen Rechten (Sebastian Piñera 1 (2010-2014) und Piñera 2 (2018-2022)) und unter den Regierungen der Concertación (Michelle Bachelet 1 (2006-2010) und Bachelet 2 (2014-2018), ein Vormarsch, der sich in repressiver staatlicher Politik, in der Verbreitung und dem Wachstum einer Kultur mit faschistischen Zügen und in dem besorgniserregenden Wachstum von Gruppen und Positionen der extremen Rechten, innerhalb und außerhalb der traditionellen Rechten, manifestiert. Dies bedeutet, dass ein Sieg von Boric am 19. Dezember nur eine vorübergehende Erleichterung sein wird, denn die Gefahr der extremen Rechten wird bestehen bleiben, insbesondere wenn die wirtschaftliche und soziale Krise nicht kurzfristig gelöst wird. Wenn die Kräfte, die Boric unterstützen, die Wahl gewinnen und den Aufstieg der extremen Rechten aufhalten wollen, sollten sie sich nicht darauf konzentrieren, um bestimmte Nischen von rechten oder Mitte-Rechts-Stimmen zu kämpfen (um den Preis, dass sie ihr eigenes Programm kürzen, um es in den Augen der Konservativen „salonfähig“ zu machen, und dabei Gefahr laufen, linke Stimmen zu verprellen), sondern sie sollten sich bemühen, die Mehrheit der Bevölkerung zu erreichen, die nicht zur Wahl geht (das sind mehr als 52 Prozent der Wählerschaft), und versuchen, sie auf der Grundlage konkreter, realisierbarer Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu überzeugen. Andernfalls steigt das Risiko eines reaktionären Rückschritts.

Inwieweit könnte der Ausgang der Präsidentschaftswahlen den Kampf des Volkes (lucha  popular)  beeinflussen? Erleben wir einen historischen Wendepunkt, der uns in eine neue Phase des lucha popular führen könnte?

S. G.: Ohne die großen Unterschiede zu leugnen, die zwischen den Projekten der Kandidaten bestehen, die in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl aufeinandertreffen, schlägt keines der beiden Programme vor, das derzeitige [Wirtschafts-]Modell in einer antikapitalistischen Perspektive zu überwinden. Im Fall von Kast ist dies so offensichtlich, dass es nicht notwendig ist, es zu analysieren. Es ist jedoch unerlässlich, etwas über das Programm von Boric zu sagen, da es als anti-neoliberal dargestellt wird. Ohne es hier en detail zu analysieren, stellen wir jedoch fest, dass das Programm von Apruebo Dignidad, anders als etwa das Programm der Unidad Popular von 1970, keine antioligarchischen, antimonopolistischen oder antiimperialistischen Veränderungen vorschlägt, die es uns ermöglichen würden, den Weg zu künftigen antikapitalistischen Tranformationen einzuschlagen. Zweifellos leben wir in einer anderen Zeit, und die Aufgaben von heute sind andere als die von vor einem halben Jahrhundert. Niemand kann vernünftigerweise behaupten, dass am Horizont der Sozialismus auf der Tagesordnung steht. Die Überwindung des Neoliberalismus und der Aufbau einer partizipativen Demokratie sind dringende Aufgaben, auf die sich eine solide Mehrheit der Bürger einigen kann. Wenn das Ziel der Überwindung des Neoliberalismus und des Aufbaus eines „sozialen, partizipatorischen und demokratischen Staates“ jedoch Realität werden und nicht nur Rhetorik bleiben soll, darf der anti-neoliberale Kampf nicht von dem anti-oligarchischen, anti-monopolistischen, antiimperialistischen und anti-kapitalistischen Kampf getrennt werden.

Enthält das Programm von Boric anti-monopolistische und antiimperialistische Aufgaben?

S. G.: Die bloße Berufung auf Maßnahmen, die darauf abzielen, bestimmte monopolartige Praktiken einzuschränken, um einen stärker staatlich regulierten kapitalistischen Wettbewerb zu etablieren und Politiken für die Entwicklung eines „grünen Kapitalismus“ zu entwickeln, stellt keine konsequente und kohärente antimonopolistische Politik dar. Ähnliche Unzulänglichkeiten sind in Bezug auf die Beherrschung unserer Wirtschaft durch das imperialistische oder transnationale Kapital zu erkennen. Das Programm von Apruebo Dignidad sieht beispielsweise keine neue Verstaatlichung von Kupfer vor, dessen Reichtum, für die Befriedigung der großen unbefriedigten sozialen Bedürfnisse unerlässlich ist. Der Anti-Neoliberalismus dieses Programms beruht nicht auf tragfähigen Grundlagen, sondern ist vielmehr ein Bündel von Reformen – von denen viele gerecht und notwendig sind –, in einer Sackgasse enden werden, ohne das erklärte Ziel zu erreichen. Denn sie sind nicht Teil einer radikalen Perspektive, die notwendigerweise impliziert, auch vor großen Interessen nicht zurückzuschrecken, um die notwendigen Mittel zur Finanzierung sozialer Reformen zu erlangen. Die Krise wird in Chile weitergehen, unabhängig davon, wer am 11. März 2022 die Präsidentschaft der Republik übernimmt, da die strukturellen Probleme nicht mit einer Politik der halben Sachen gelöst werden können. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Es geht nicht darum, eine schnelle oder umgehende Lösung für die angehäuften Probleme zu finden, eine Angelegenheit, die zweifellos Zeit und Fortschrittlichkeit erfordert. Meine Beobachtung bezieht sich auf das Fehlen einer radikalen, wenn auch langfristigen Perspektive, die es ermöglichen würde, Teilaufgaben und Reformen mit einem Horizont der allgemeinen Transformation zu verbinden.

09.11.2021 | Veranstaltung ›Unvollendete Revolution 1918 – Schulter an Schulter gegen Krieg und Imperialismus.‹

Nach über 100 Jahren bleiben die Kämpfe und Gedanken der Novemberrevolution aktueller denn je. Dennoch sind die Geschehnisse rund um den 9. November 1918 und der Novemberrevolution heute größtenteils aus unserem Gedächtnis verdrängt worden. Der Kampf der revolutionären Arbeiter*innenbewegung, ihre Errungenschaften, ihr Verrat durch die SPD und die Niederschlagung durch rechte Kräfte verbleiben wie eine Randnotiz in der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Jene Allianzen aus den Resten der Monarchie, des Militärs, der Freikorps sowie der Großindustrie bildeten später die Basis für den aufkommenden deutschen Faschismus. Die Niederschlagung der Revolution war somit der Auftakt der faschistischen Konterrevolution.

Die Gründe gegen den Krieg und Kapital aufzubegehren sowie der Kampf für ein Leben frei von Ausbeutung und Unterdrückung sind die gleichen wie heute. Damals wie auch heute sind wir konfrontiert mit einem ausbeuterischen System, in dem Profit über dem Wohle der Gesellschaft und der Lohnabhängigen steht. Fragen nach Vergesellschaftung, nach Frieden und einem Ende der Ausbeutung sind aktueller denn je.

Das Gedenken an die Novemberrevolution aber darf nicht nur im historischen verbleiben, sondern muss an unsere heutigen Kämpfe anschließen. Aus der Novemberrevolution zu lernen heißt weiterhin: Schulter an Schulter gegen Militarismus und Imperialismus zu kämpfen. Das bedeutet für uns täglich auf eine Bewegung hinzuarbeiten, die für eine Wirtschaftweise einritt die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an Konkurrenz und Ausbeutung. Enteignung und Vergesellschaftung sind für uns wichtige Instrumente um als Lohnabhängige echte demokratische Kontrolle über unsere Arbeitsbedingungen und den von uns erarbeiteten gesellschftlichen Reichtum zu erlangen.

Theater, Veranstaltung, Musik mit Vertreter*innen von der Koordination 1918 Unvollendete Revolution, der Stadtteilorganisierung Hände weg vom Wedding, der Berliner Krankenhausbewegung, von SKET – Die Schnelle Kulturelle Eingreifftruppe (Theater X)


Programmpunkte

Gedenken an die am 11. Januar 1919 auf dem Dragoner-Areal ermordeten 7 Parlamentäre.

Theaterstück mit SKET (Schnelle Kulturelle Eingreifftruppe /Theater X) und Koordination Unvollendete Revolution 1918

Historische Einordnung der Novemberrevolution, Aktualität und Lehren der Novemberrevolution für heute sowie Arbeitskämpfe im Gesundheitssektor. Mit Vertreter*innen von der Koordination Unvollendete Revolution 1918, Stadtteilorganisierung Hände weg vom Wedding und der Berliner Krankenhausbewegung.

Veranstalter: Koordination ›Unvollendete Revolution 1918‹ und ›Hände weg vom Wedding‹, unterstützt vom Vernetzungstreffen Dragonerareal.

Veranstaltungsort: Dragoner Areal Mehringdamm Ecke Obentrautstr. (U-Bhf Mehringdamm)


Videotrailer

Video Dokumentation


Fotogalerie

Flyer

Plakat

07.10.2021 | Veranstaltung ›Wohnkonzerne vergesellschaften!‹

Wohnkonzerne vergesellschaften!
Für ein Ja im Volksentscheid am 26. September

Es gab einmal eine Zeit, die mit dem Ziel der Vergesellschaftung von Konzernen große Hoffnungen verband, so weitgehend und allgemein tragfähig, dass sie in der damaligen Weimarer Verfassung (1919) niedergeschrieben wurde. Nicht zufällig im Anschluss an den Ersten Weltkrieg, so dass diese Forderung nach dem Zweiten Weltkrieg ins Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Mai 1949) übernommen wurde. Damit war mehr gemeint, als Enteignungen von Privatgrundstücken für den Bau von Autobahnen vorzunehmen: Es ging um die Vergesellschaftung des großen Kapitals, allen voran der Schwerindustrie, die eine große Verantwortung für diese Kriege hatte. Gegenwärtig lebt die Forderung nach Vergesellschaftung vor allem wieder auf, wenn es um die Daseinsvorsorge geht, die Erfüllung elementarer Grundbedürfnisse, von denen das Recht auf bezahlbares Wohnen (neben Gesundheit, kommunale Versorgung mit Energie und Wasser) ein zentrales Moment darstellt …

Die Veranstaltung mit Musik  fand im ver.di-Haus Berlin statt.

Passagen:

  1. Einführung durch die Koordination ›Unvollendete Revolution 1918
  2. Jonas Becker, Stand der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“
  3. Frank Wolf, Landesbezirksleiter ver.di
  4. Sabine Kördel, Ortsvorstand IG Metall Berlin
  5. Dietmar Lange, Historiker „Zur Geschichte des Artikel 15 Grundgesetz“
  6. Diskussion

Musik  |  The Incredible Herrengedeck

Moderation  |  Marianne Dallmer und Manfred Birkhahn

Veranstalter  |  Koordination ›Unvollendete Revolution 1918

Dokumentation  |  www.zweischritte.berlin 2021


Seit unserem Symposium vom März 2019 im IGMetall-Haus unterstützen wir die Ziele des Volksbegehrens „Deutsche Wohnen und Co enteignen“, weil hiermit ein Schritt zur Vergesellschaftung von Daseinsvorsorge gemacht werden soll.
So haben wir im Vorfeld der Wahlen am 7.9.2021 zu ver.di in die Köpenicker Straße eingeladen, um das Ja im Volksentscheid zu begründen und zu vermehren.
Die Veranstaltung war sehr lebendig – wegen der Pandemie konnten nur 30 Personen teilnehmen.

VertreterInnen der beiden großen Gewerkschaften ver.di und IGMetall haben begründet, warum sie ihre Mitglieder auffordern, mit Ja zu stimmen.

Ein Vertreter der ‚Initiative Deutsche Wohnen enteignen‘ informierte über den Stand der Kampagne, ein historischer Abriss erklärte wie der Artikel 15 (Vergesellschaftung) in das Grundgesetz kam, und es wurde kurz diskutiert.

Zur guten Laune trug das Musikduo von ›Incredible Herrengedeck‹“ bei.

Foto: Ingo Müller


Flyer

Wie kam die Vergesellschaftung in die Verfassung?

War die Überführung der Großindustrie in Gemeineigentum eine alte Zukunftsvorstellung der Arbeiterbewegung, so wurde sie nach den Gräueln des Ersten Weltkrieges zur konkreten Forderung in der Novemberrevolution 1918. 
Die Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterinnen hatte verstanden, dass der Krieg nicht fürs „Vaterland“, sondern für bessere Weltmarktchancen der Industriellen und Aktionäre geführt worden war. Die Arbeiter wollten sich nicht noch einmal für das Bürgertum verheizen lassen; deshalb sollten ihm die Grundlagen seiner Macht und die Ausbeutungsmöglichkeiten entzogen werden. Die schlimmsten Arbeitsbedingungen herrschten in den Bergwerken und in der Schwerindustrie, damit sollte Schluss sein, und man wollte nicht weiterhin Kriegsgewinnler wie Stinnes durch die eigene Arbeit bereichern.

Die Gewerkschaftsführungen hatten bereits sechs Tage nach dem Sturz des Kaisers im sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen dem Unternehmerlager das Eigentum garantiert und dafür ihre Anerkennung als gleichberechtigte Verhandlungspartner eingehandelt, dennoch blieb die Sozialisierung neben der Entmachtung des Militärs die wichtigste Forderung der Arbeiterbewegung. Uneinig war man sich über den Weg; sollte die Sozialisierung von einer sozialistischen Mehrheit im künftigen Parlament, die man als sicher erwartete, beschlossen werden, oder sollte man sie über die Räte, denen in der Revolution überall die Macht zugefallen war, direkt durchsetzen?

Auf dem Reichsrätekongress, oberstes Organ der neuen Republik, war Mitte Dezember 1918 deutlich geworden, dass die übergroße Mehrheit den parlamentarischen Weg für richtig hielt, weil er einen größeren gesellschaftlichen Rückhalt versprach. Man beschloss Wahlen zur Nationalversammlung für den 19. Januar 1919.  Dennoch sprach sich die Versammlung mit noch größerer Mehrheit dafür aus, mit der Sozialisierung aller dafür reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen. Allerdings beschloss man dazu keine konkreten Maßnahmen, sondern beauftragte damit die Revolutionsregierung, den von der SPD dominierten Rat der Volksbeauftragten.

Dieser verbündete sich jedoch mit der Obersten Heeresleitung, um den letzten Widerstand gegen die Entmachtung der Arbeiter- und Soldatenräte zu brechen. Neuaufgestellte reaktionäre Truppen brachten in den Berliner Januarkämpfen über Hundert Revolutionäre um und ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

In den anschließenden Wahlen zur Nationalversammlung erhielt die SPD 37,9% – die USPD 7,6 %. Die Mehrheit der Arbeiterschaft hatte also das Vorgehen der Regierung gegen die revolutionären „Störenfriede“ gebilligt, und zur sozialistischen Parlamentsmehrheit hatte es nicht gereicht.

So war die Sozialisierung in weite Ferne gerückt, und es setzte eine allgemeine Desillusionierung in der Arbeiterschaft ein, zumal die Regierung nun auch reichsweit militärisch „aufräumen“ ließ und die SPD mit Verweis auf ihre bürgerlichen Koalitionspartner Sozialisierungen für nicht möglich erklärte. Im Verfassungsentwurf, den die Nationalversammlung in Weimar diskutierte, wohin sie aus Furcht vor der Berliner Arbeiterschaft ausgewichen war, kam die Sozialisierung nicht einmal vor. Ministerpräsident Scheidemann ließ verbreiten, dass kein Kabinettsmitglied daran denke, das Rätesystem in Verfassung oder Verwaltung einzugliedern – damit war auch der Sozialisierung eine Absage erteilt, denn vergesellschaftete Betriebe müssten natürlich durch Räte verwaltet werden.

Die Bergarbeiter im Ruhrgebiet besetzten nun das Kohlesyndikat und ihre Betriebe – sie organisierten die Produktion und führten die Sozialisierung damit selbständig durch. Die Regierung ließ die Bewegung durch die Freikorps Ende Februar 1919 blutig niederschlagen. Auch im mitteldeutschen Bergbaugebiet übernahmen nun die Arbeiterräte nach Provokationen durch die Freikorps Betriebe und Produktion, die Arbeiterschaft ging zur Unterstützung in den Generalstreik. Die Weimarer Nationalversammlung war mitten im Streikgebiet eingeschlossen, nur geschützt durch die Freikorps. Nun beschloss die Berliner Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte am 3. März den Generalstreik. Am Abend desselben Tages erklärte sich die Weimarer Nationalversammlung, die sich eigentlich um eine Woche vertagen wollte, auf Veranlassung eines erregten Scheidemann zur Tagung in Permanenz. Die Regierung legte dann am 4. März einen eiligst entworfenen Sozialisierungsartikel vor, der die Möglichkeit der Vergesellschaftung und die Regelung der Gemeinwirtschaft durch Selbstverwaltungskörper vorsah.  Damit war die Mehrheit der SPD-Anhängerschaft zufriedengestellt, die Bewegung gespalten, und in Mitteldeutschland musste der Generalstreik abgebrochen werden, nicht ohne Ermordung von Arbeitern durch die Freikorps.

Die Regierung hatte nun freie Hand, sich wieder auf Berlin zu konzentrieren: der Berliner Generalstreik ging in die Märzkämpfe über, und am Ende hatten die Regierungstruppen über 1.200 Arbeiter brutal ermordet. Wochenlang spülte die Spree Leichen ans Ufer. Danach konnte auch die Münchner Räterepublik durch staatlichen Massenmord beseitigt werden.

So war die Verankerung der Möglichkeit zur Sozialisierung in der Verfassung das Ergebnis eines Täuschungsmanövers zur Verhinderung der tatsächlichen Sozialisierung – ein Zugeständnis, für das Tausende gestorben sind.

Aus den Freikorps wurde die Wehrmacht gebildet. Sie verband sich mit der faschistischen Massenbewegung. Nach ihrer Niederlage im zweiten Versuch, zur Weltmacht zu werden, herrschte im zerstörten Deutschland nach Millionen Toten etwas Klarheit über die Mitschuld der Großindustrie und darüber, was gesellschaftlich geändert werden müsste: sogar die CDU hatte den Sozialismus in ihrem Wahlprogramm zu stehen. 1946/47 streikten wieder Arbeiter für die Vergesellschaftung ihrer Betriebe.
Bei einem Volksentscheid in Sachsen stimmten am 30.Juni 1946 über 77% für ein „Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes“, mit dem SED und sowjetische Militäradministration die Enteignungen absicherten.
 Am 1. Dezember 1946 stimmten bei einer Volksabstimmung  in Hessen 71% für die Sozialisierung der Großindustrie. Die Möglichkeit wurde in der Landesverfassung festgeschrieben, aber jahrelange Verzögerungsmanöver und schließlich ein Verbot durch die US-Besatzungsmacht verhinderten die Umsetzung.

In Westdeutschland hatte sich der parlamentarische Rat dann darauf geeinigt, die Wirtschaftsordnung nicht in der Verfassung festzuschreiben. Diese wirtschaftliche Neutralität war Ergebnis des Bonner Kompromisses zwischen SPD und bürgerlichen Parteien, die Anlässe zu Arbeiterprotesten vermeiden wollten. So ist es zum Artikel 15 des Grundgesetzes gekommen, der die Möglichkeit von Vergesellschaftungen gegen Entschädigung offen lässt. Wieder sieht man: das Zugeständnis sollte der damaligen wirklichen Bewegung zur Sozialisierung den Wind aus den Segeln nehmen.

Heute kann die Sozialisierungsbewegung daran anknüpfen, denn die Bestrebungen sind durch den Verfassungsartikel legal. Wir müssen ihn verteidigen, weil die Kämpfe wesentlich erschwert wären, wenn sie in die Illegalität gedrängt werden könnten.

Klaus Dallmer, Juli 2021