Wie kam die Vergesellschaftung in die Verfassung?

War die Überführung der Großindustrie in Gemeineigentum eine alte Zukunftsvorstellung der Arbeiterbewegung, so wurde sie nach den Gräueln des Ersten Weltkrieges zur konkreten Forderung in der Novemberrevolution 1918. 
Die Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterinnen hatte verstanden, dass der Krieg nicht fürs „Vaterland“, sondern für bessere Weltmarktchancen der Industriellen und Aktionäre geführt worden war. Die Arbeiter wollten sich nicht noch einmal für das Bürgertum verheizen lassen; deshalb sollten ihm die Grundlagen seiner Macht und die Ausbeutungsmöglichkeiten entzogen werden. Die schlimmsten Arbeitsbedingungen herrschten in den Bergwerken und in der Schwerindustrie, damit sollte Schluss sein, und man wollte nicht weiterhin Kriegsgewinnler wie Stinnes durch die eigene Arbeit bereichern.

Die Gewerkschaftsführungen hatten bereits sechs Tage nach dem Sturz des Kaisers im sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen dem Unternehmerlager das Eigentum garantiert und dafür ihre Anerkennung als gleichberechtigte Verhandlungspartner eingehandelt, dennoch blieb die Sozialisierung neben der Entmachtung des Militärs die wichtigste Forderung der Arbeiterbewegung. Uneinig war man sich über den Weg; sollte die Sozialisierung von einer sozialistischen Mehrheit im künftigen Parlament, die man als sicher erwartete, beschlossen werden, oder sollte man sie über die Räte, denen in der Revolution überall die Macht zugefallen war, direkt durchsetzen?

Auf dem Reichsrätekongress, oberstes Organ der neuen Republik, war Mitte Dezember 1918 deutlich geworden, dass die übergroße Mehrheit den parlamentarischen Weg für richtig hielt, weil er einen größeren gesellschaftlichen Rückhalt versprach. Man beschloss Wahlen zur Nationalversammlung für den 19. Januar 1919.  Dennoch sprach sich die Versammlung mit noch größerer Mehrheit dafür aus, mit der Sozialisierung aller dafür reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen. Allerdings beschloss man dazu keine konkreten Maßnahmen, sondern beauftragte damit die Revolutionsregierung, den von der SPD dominierten Rat der Volksbeauftragten.

Dieser verbündete sich jedoch mit der Obersten Heeresleitung, um den letzten Widerstand gegen die Entmachtung der Arbeiter- und Soldatenräte zu brechen. Neuaufgestellte reaktionäre Truppen brachten in den Berliner Januarkämpfen über Hundert Revolutionäre um und ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

In den anschließenden Wahlen zur Nationalversammlung erhielt die SPD 37,9% – die USPD 7,6 %. Die Mehrheit der Arbeiterschaft hatte also das Vorgehen der Regierung gegen die revolutionären „Störenfriede“ gebilligt, und zur sozialistischen Parlamentsmehrheit hatte es nicht gereicht.

So war die Sozialisierung in weite Ferne gerückt, und es setzte eine allgemeine Desillusionierung in der Arbeiterschaft ein, zumal die Regierung nun auch reichsweit militärisch „aufräumen“ ließ und die SPD mit Verweis auf ihre bürgerlichen Koalitionspartner Sozialisierungen für nicht möglich erklärte. Im Verfassungsentwurf, den die Nationalversammlung in Weimar diskutierte, wohin sie aus Furcht vor der Berliner Arbeiterschaft ausgewichen war, kam die Sozialisierung nicht einmal vor. Ministerpräsident Scheidemann ließ verbreiten, dass kein Kabinettsmitglied daran denke, das Rätesystem in Verfassung oder Verwaltung einzugliedern – damit war auch der Sozialisierung eine Absage erteilt, denn vergesellschaftete Betriebe müssten natürlich durch Räte verwaltet werden.

Die Bergarbeiter im Ruhrgebiet besetzten nun das Kohlesyndikat und ihre Betriebe – sie organisierten die Produktion und führten die Sozialisierung damit selbständig durch. Die Regierung ließ die Bewegung durch die Freikorps Ende Februar 1919 blutig niederschlagen. Auch im mitteldeutschen Bergbaugebiet übernahmen nun die Arbeiterräte nach Provokationen durch die Freikorps Betriebe und Produktion, die Arbeiterschaft ging zur Unterstützung in den Generalstreik. Die Weimarer Nationalversammlung war mitten im Streikgebiet eingeschlossen, nur geschützt durch die Freikorps. Nun beschloss die Berliner Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte am 3. März den Generalstreik. Am Abend desselben Tages erklärte sich die Weimarer Nationalversammlung, die sich eigentlich um eine Woche vertagen wollte, auf Veranlassung eines erregten Scheidemann zur Tagung in Permanenz. Die Regierung legte dann am 4. März einen eiligst entworfenen Sozialisierungsartikel vor, der die Möglichkeit der Vergesellschaftung und die Regelung der Gemeinwirtschaft durch Selbstverwaltungskörper vorsah.  Damit war die Mehrheit der SPD-Anhängerschaft zufriedengestellt, die Bewegung gespalten, und in Mitteldeutschland musste der Generalstreik abgebrochen werden, nicht ohne Ermordung von Arbeitern durch die Freikorps.

Die Regierung hatte nun freie Hand, sich wieder auf Berlin zu konzentrieren: der Berliner Generalstreik ging in die Märzkämpfe über, und am Ende hatten die Regierungstruppen über 1.200 Arbeiter brutal ermordet. Wochenlang spülte die Spree Leichen ans Ufer. Danach konnte auch die Münchner Räterepublik durch staatlichen Massenmord beseitigt werden.

So war die Verankerung der Möglichkeit zur Sozialisierung in der Verfassung das Ergebnis eines Täuschungsmanövers zur Verhinderung der tatsächlichen Sozialisierung – ein Zugeständnis, für das Tausende gestorben sind.

Aus den Freikorps wurde die Wehrmacht gebildet. Sie verband sich mit der faschistischen Massenbewegung. Nach ihrer Niederlage im zweiten Versuch, zur Weltmacht zu werden, herrschte im zerstörten Deutschland nach Millionen Toten etwas Klarheit über die Mitschuld der Großindustrie und darüber, was gesellschaftlich geändert werden müsste: sogar die CDU hatte den Sozialismus in ihrem Wahlprogramm zu stehen. 1946/47 streikten wieder Arbeiter für die Vergesellschaftung ihrer Betriebe.
Bei einem Volksentscheid in Sachsen stimmten am 30.Juni 1946 über 77% für ein „Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes“, mit dem SED und sowjetische Militäradministration die Enteignungen absicherten.
 Am 1. Dezember 1946 stimmten bei einer Volksabstimmung  in Hessen 71% für die Sozialisierung der Großindustrie. Die Möglichkeit wurde in der Landesverfassung festgeschrieben, aber jahrelange Verzögerungsmanöver und schließlich ein Verbot durch die US-Besatzungsmacht verhinderten die Umsetzung.

In Westdeutschland hatte sich der parlamentarische Rat dann darauf geeinigt, die Wirtschaftsordnung nicht in der Verfassung festzuschreiben. Diese wirtschaftliche Neutralität war Ergebnis des Bonner Kompromisses zwischen SPD und bürgerlichen Parteien, die Anlässe zu Arbeiterprotesten vermeiden wollten. So ist es zum Artikel 15 des Grundgesetzes gekommen, der die Möglichkeit von Vergesellschaftungen gegen Entschädigung offen lässt. Wieder sieht man: das Zugeständnis sollte der damaligen wirklichen Bewegung zur Sozialisierung den Wind aus den Segeln nehmen.

Heute kann die Sozialisierungsbewegung daran anknüpfen, denn die Bestrebungen sind durch den Verfassungsartikel legal. Wir müssen ihn verteidigen, weil die Kämpfe wesentlich erschwert wären, wenn sie in die Illegalität gedrängt werden könnten.

Klaus Dallmer, Juli 2021